USA: Warum die Drogen-Krise besonders die Ureinwohner betrifft | STERN.de

2022-10-08 19:54:05 By : Mr. zhengjun li

590 Millionen US-Dollar. So viel sind vier Pharmaunternehmen – darunter Johnson & Johnson – bereit zu zahlen, um die Klage von mehr als 400 Stämmen und Organisationen amerikanischer Ureinwohner beizulegen, die die Unternehmen wegen süchtig machender Schmerzmittel verklagt hatten. Dies geht aus kürzlich veröffentlichen Unterlagen des zuständigen Gerichts in Cleveland hervor. Laut einem Bericht von "ABC News" repräsentiert die Sammelklage 80 Prozent aller Stammesangehörigen in den USA.

Zahlen sollen neben dem Medikamentenhersteller Johnson & Johnson die drei größten Arzneimittelhändler des Landes: AmerisourceBergen, Cardinal Health und McKesson. Johnson & und Johnson stellte allerdings klar, dass sein 150-Millionen-Dollar-Anteil an der Vergleichszahlung nicht als Schuldeingeständnis zu verstehen sei. Unabhängig davon hatten sich die drei Vertriebsfirmen bereits 2021 mit der Cherokee Nation of Oklahoma auf einen Vergleich über 75 Millionen Dollar geeinigt.

Nicht nur die amerikanischen Ureinwohner, sondern auch mehrere Bundesstaaten und örtliche Behörden fordern von Pharma-Unternehmen schon länger viele Milliarden Dollar zurück, die sie für den Kampf gegen Opiat-Abhängigkeit und Überdosierung ausgegeben haben.

Die nun umgerechnet rund 525 Millionen Euro sollen die Stämme dazu nutzen, die grassierende Opioid-Abhängigkeit in ihren Gemeinden zu bekämpfen. Doch werde die Vereinbarung erst in Kraft treten, wenn 95 Prozent der Stämme, die Klage eingereicht hatten, dem Vergleich zustimmen, sagte Tara Sutton, eine Anwältin, deren Kanzlei 28 Stämme vertritt laut "ABC News". Anspruch sollen alle Angehörigen der 574 staatlich anerkannten Stämme haben – unabhängig davon, ob sie selbst geklagt hatten oder nicht.

Die Gelder dürften allerdings ausschließlich für die Behandlung und Prävention von Suchterkrankungen verwendet werden. "Wir lösen die Opioid-Krise mit diesem Vergleich nicht, aber wir stellen den Stammesgemeinschaften wichtige Ressourcen zur Verfügung, um die Krise zu bewältigen", sagte Steven Skikos, ein führender Anwalt der Stämme gegenüber der "New York Times".

Dass die amerikanischen Ureinwohner separat geklagt hatten, hat einen guten Grund: Einem Bericht der "New York Times" zufolge ist die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung von Opioiden unter indianischen US-Amerikanern teils doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Die US-Zeitung zitiert eine Studie, laut der bei schwangeren indianischen Frauen 8,7-mal häufiger eine Opioid-Abhängigkeit diagnostiziert wurde als bei Schwangeren anderer Ethnien.

Doch nicht nur beim Schmerzmittelmissbrauch sind die US-Ureinwohner traurige Spitzenreiter. Keine andere Ethnie in den USA hat so heftig mit Drogenabhängigkeit zu kämpfen, heißt es in einem Beitrag des "American Addiction Centers". Dies betreffe Alkohol-, Marihuana-, Kokain-, Inhalationsmittel- und Halluzinogenkonsum. Bei der landesweiten Umfrage "National Survey on Drug Use and Health" aus dem Jahr 2018 gab jeder vierte Teilnehmer zu, im vergangenen Monat "zu viel" getrunken zu haben. 2,5 Prozent aller erwachsenen US-Amerikaner, die sich wegen Drogensucht in Behandlung begeben, seien angehörige indianscher Stämme – dabei machen sie gerade einmal ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus, heißt es in einem Studienbericht aus dem Jahr 2012. Dem "American Addiction Centers" zufolge haben Ureinwohner "eine um 5,5 Jahre niedrigere Lebenserwartung aufgrund von Problemen wie Drogenmissbrauch, chronischen Krankheiten und Selbstmord."

Dass in den US-amerikanischen Stammesgemeinden überproportional viele Menschen mit Drogen- oder Alkoholproblemen zu kämpfen haben, hat viele Ursachen. "Die Geschichte der Ureinwohner (insbesondere die letzten 300 Jahre) ist geprägt von Gewalt, Unterdrückung, Vertreibung und dem Verlust der Selbstbestimmung", heißt es in einem Beitrag der Website "Red Road", die sich eigenen Angaben zufolge für die Sensibilisierung indianischer Kultur einsetzt.

Neben diesem traumatischen Erbe begünstigten Berichten zufolge auch soziale Isolation, ein Mangel an Bildung und eine hohe Inhaftierungsrate den weit verbreiteten Drogenmissbrauch. Auch seien viele Reservate nicht ausreichend in das staatliche Gesundheitssystem eingebunden. Laut "Landmark Recovery", die mehrere Suchtkliniken in den USA betreiben, leben 15 Prozent der Ureinwohner unter der Armutsgrenze. "Der sich selbst verstärkende Kreislauf aus Kriminalität, Sucht und Armut kommt hier zum Tragen und verschlimmert das Problem noch", heißt es weiter.

Diese Abwärtsspirale beginnt oft schon in jungen Jahren, schreibt das "National Institute on Drug Abuse", das zum US-Gesundheitsministerium gehört. Eine Umfrage aus dem Jahr 2018 unter Schülern, die in oder in der Nähe von Reservaten lebten, habe ergeben, dass indianische Jugendliche einen "wesentlich höheren Konsum von Alkohol, Marihuana, Zigaretten und anderen illegalen Drogen angeben". Dem "National Survey on Drug Use and Health" zufolge haben vier von zehn indianischen Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren bereits illegale Drogen konsumiert.

Allerdings haben viele Stammesgemeinden nur begrenzten Zugang zu Suchteinrichtungen und Präventionsmaßnahmen. Das der 590-Millionen-Dollar-Vergleich das Blatt wendet, ist zumindest fraglich. Angenommen, jeder der rund 6,8 Millionen Ureinwohner würde an dem Vergleich beteiligt, so entspräche dies abzüglich der Anwalts- und Prozesskosten einer Pro-Kopf-Zahlung von 74 Dollar für die Behandlung und Prävention von Suchterkrankungen. "Jeder Penny zählt, also werden wir ihn nehmen und ihn nutzen", sagte W. Ron Allen, Vorsitzender des Jamestown S'Klallam Stammes im US-Bundesstaat Washington, dem sich 550 Menschen zugehörig fühlen gegenüber "ABC News".

Quellen: "ABC News"; "New York Times"; "American Addiction Centers"; "National Survey on Drug Use and Health 2018"; "theredroad.org"; "National Institute on Drug Abuse"; "Landmark Recovery"; mit Material der Nachrichtenagentur dpa

© G+J Medien GmbH

Zugang zu allen STERN PLUS-Inhalten und Artikeln aus dem Print-Magazin

werbefrei & jederzeit kündbar